„Hier ist den Leuten offensichtlich Privatsphäre und Kontrolle wichtiger als in den USA“, meinte Mitchell Baker, die Mozilla-Vorsitzende im April in einem Interview zu mir auf die Frage, warum ihr Firefox-Browser so beliebt in Mitteleuropa ist. „Die Sorgen, dass ein oder zwei Konzerne die ganze Kontrolle über das Internet haben, sind hier viel stärker ausgeprägt.“ Damals saßen wir mitten in Berlin, anlässlich der re:publica 2011 waren wir beide in die deutsche Hauptstadt gekommen. Viel Zeit hatte ich nicht, ihre Aussage zu reflektieren, der nächste Termin wartete schon.
Der Blick zurück
Kürzlich war ich wieder in Berlin und hatte anders als bei meinem ersten Besuch endlich die Zeit, die Metropole zu erkunden. Beim Radeln durch die Stadt (sehr empfehlenswert), von der East Side Gallery über den Checkpoint Charlie zum DDR-Museum, viel mir wieder ein, was Baker gemeint hatte. Mitteleuropa und insbesondere Deutschland hat seine Lektion bekommen, was es heißt, Privatsphäre aufzugeben. Das Land prägen die Erinnerungen an gleich zwei totalitäre Überwachungsstaaten (Nazi-Regime und DDR) mit ihren Unterdrückungsapparaten (Gestapo und Stasi). Überall in Berlin entdeckte ich Symbole, Erinnerungen und Mahnmale an eine Zeit, in der Privatsphäre nichts zählte – etwa jene Statue (Bild siehe oben) in Ostberlin, die an das Spitzelwesen der DDR-Stasi erinnert und einen Fremden über die Schulter in das Buch eines Bürgers blicken lässt. Einlicke, Fremder, Buch – Facebook und der Sager des österreichischen Kabarettisten Michael Niavarani, Facebook sei die „Stasi auf freiwilliger Basis“, kamen mir sofort in den Sinn.
Einchecken bei Charlie
Etwa 20 Radminuten weiter, beim Checkpoint Charlie, musste ich an einen anderen Internet-Dienst denken, der auch den Ruf hat, die Privatsphäre auszuhebeln: Foursquare. Laut einem Bericht von TheNextWeb tätigen knapp 10 Millionen Nutzer täglich drei Millionen Check-ins, insgesamt wurden mit diesem Einchecken mehr als 600 Millionen Mal ein Aufenthaltsort veröffentlicht. Der Checkpoint Charlie war zwischen 1961 und 1990 ein Kontrollpunkt an der Mauer zwischen Ost- und Westberlin – wollte hier ein Ausländer oder Mitglied der Allierten durch, wurde er penibel kontrolliert, protokolliert und nicht selten wieder zurückgeschickt. Noch vor 22 Jahren hätte man das freiwillige Einchecken per Handy und Foursquare an einem Ort wohl äußerst befremdlich gefunden.
War und ist Privatsphäre etwas, wonach sich die Menschen in totalitären Staaten sehnten und sehnen, meinte Facebook-Chef Mark Zuckerberg derweil beim G8-Treffen in Paris, dass sich die Aufregung um Privatsphäre legen würde, die seine Firma bei der Einführung von neuen Features (z.B. Newsfeed, Platform) erfahren hätte. Privacy International-Direktor Simon Davies hielt dagegen, wie cnet schrieb: „Menschliches Verhalten wird durch Mitmenschen geprägt, die Leute werden sich dem anpassen, was die Mehrheit als Norm ansieht. Die Leute werden sich weiterhin unwohl fühlen, Informationen zu veröffentlichen, und Facebook wird sich keinen Gefallen tun, das nicht anzuerkennen.“
Privatangelegenheiten
Auch der deutsche Datenschützer Peter Schaar ist über die zunehmende Bereitschaft vieler Menschen, ihre Privatsphäre nicht mehr ernstzunehmen, besorgt. In seinem empfehlenswerten Buch „Das Ende der Privatsphäre“ (Random House, 2007) zitiert er den US-Soziologen Richard Sennett: „In einer von individuellen Entscheidungen geprägten Gesellschaft muss die Privatsphäre gegen Einblicke Dritter geschützt werden, damit das individuelle Handeln überhaupt möglich ist.“ Damit eine für die Demokratie essenzielle Öffentlichkeit funktioniert, muss es für den Bürger einen privaten Raum geben, in dem er sich frei von Beobachtung informieren, kommunizieren und Entscheidungen treffen könne, so Schaar. Allerdings: „Privatangelegenheiten werden heute weitaus freizügiger öffentlich gemacht – bis hin zu intimen Details, deren Erörterung in früheren Zeiten selbst im privaten Kreis tabu war.“
Antike und Mittelalter
Tja, die guten alten Zeiten. In den griechischen Stadtstaaten und später bei den Römern wurde die Zweiteilung des Lebens in „öffentlich“ und „privat“ offenbar sehr ernst genommen. So stammt unser Begriff von Privatheit vom lateinischen „privatus“ ab – was jenen Bürger bezeichnete, der sich gerade nicht politisch betätigte und der sich der öffentlichen Beobachtung entzog. Im Mittelalter verschwand die Privatsphäre fast gänzlich aus dem Alltag: Wo man arbeitete, aß, schlief und liebte man sich. Bestes Beispiel sind Bauernhöfe, wo sich das Gesinde mit den Tieren den Schlafplatz teilte. Privaträume gab es nur für den Adel, aber selbst das war eingeschränkt: Im englischen Königshaus war in der Hochzeitsnacht der Hofstaat anwesend, um zu kontrollieren, ob die Ehe auch ordnungsgemäß vollzogen wurde.
In Ruhe gelassen werden
Humanismus (etwa 18. Jahrhundert, hat die Antike zum Vorbild) und Aufklärung, zusammen mit der Verfassung der Vereinigten Staaten und der Französischen Revolution, schafften wieder ein Verständnis vom unabhängigen (privaten) Bürger. Die Industrialisierung erlaubte zusätzlich, dass Arbeitsplatz und Lebensraum – im Gegensatz zum Bauernhof des Mittelalters – getrennt wurden, immer mehr Menschen kamen in den – anfangs natürlich sehr bescheidenen – Genuss von Privatraum. 1890 veröffentlichten die US-Anwälte Samuel Warren und Louis D. Brandeis ihren Aufsatz „The Right to Privacy“, worin erstmals explizit formuliert wird, dass jeder Mensch das Recht hat, in Ruhe gelassen zu werden. Das erste Datenschutzgesetz gab es dann übrigens in Deutschland – 1972 wurde der Begriff „Datenschutz“ in das hessische Gesetz aufgenommen.
Freiwillig aufgeben
Die gesamte Menschheitsgeschichte – hier skizzenhaft und unvollständig wiedergegeben – kann also auch anhand des Kampfs um Privatsphäre nacherzählt werden. Wichtig zu verstehen ist, dass man heute per unbedachten Facebook-Updates, Twitter-Tweets und Foursquare-Checkins aufgibt, was mehrere Jahrhunderte, Kriege und Revolutionen brauchte. Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass die Privatsphäre freiwillig aufgegeben wird. Sinnbildlich dafür steht der Like-Button, den uns Facebook als Technologie der freien Meinungsäußerung („Gefällt mir“) auf vielen Millionen Webseiten unterjubelt – ganz im Sinne des eigenen Firmenprofits. Und auch dafür habe ich in Berlin ein Symbol gefunden: Ein Künstler malte den erhobenen Daumen an die East Side Gallery – in Ketten.