Wenn die NSA-Enthüllungen eines bewirkt haben, dann folgendes: Spazierengehen hat wieder Pepp. In Deutschland und in Österreich haben besorgte Bürger das Promenieren zu versteckten US-Einrichtungen, in denen vermutlich ausgespähte Daten verarbeitet werden, als neue Wochenendbeschäftigung für sich entdeckt. Ein Erlebnis-Bericht vom Besuch der Wiener NSA-Villa.
Ausflug für Foto-Freunde
Die spätsommerliche Sonne scheint über den noblen Villen des Wiener Stadtteils Pötzleinsdorf, die gähnend leeren Straßen laden zum Flanieren ein und gemütliche Heurige locken zum Verweilen. Was hinter den hohen Zäunen und Fassaden der vielen Botschaftsgebäude des Viertels passiert, kann man nur erahnen. Besonders interessant wären die Vorgänge in der Pötzleinsdorfer Straße 126-128. Denn das abgeschottete Haus dort steht im Eigentum der Vereinigten Staaten von Amerika und ist in Österreich spätestens seit Sonntag besser als die NSA-Villa bekannt.
Was dort vor sich geht, will der Grün-Politiker Peter Pilz klären und den österreichischen Sicherheitsrat einberufen, der Wiener Kommunikationsberater Rudi Fussi lud via Facebook spontan zum Spaziergang für Freunde der Architekturfotografie zu besagter Adresse. Als Demonstration will man die Aktion nicht verstanden wissen, deswegen sagt man schmunzelnd “Foto-Safari” dazu.
Keiner daheim?
Und so scharen sich etwa 200 Menschen vor dem Einfahrtsgatter der besagten NSA-Villa zusammen und spähen hinein auf das abgeriegelte Gelände. Die Rollläden sind unten, ein paar Autos stehen vor dem Haus, das gesamte Grundstück wird von vielen Videokameras überwacht. Vor allem Grün-Politiker, Piraten, Studenten, Journalisten, Blogger und andere Menschen aus der Wiener Online-Branche finden sich ein, einige haben für die Foto-Safari auch gleich die Familie samt Kinderwagerl mitgenommen. Viele haben Kameras mitgebracht und schießen Fotos von der Villa und den Überwachungskameras, die die Szenerie bei Nummer 126-128 ziemlich sicher genau dokumentieren.
Ein paar Spaßvögel läuten auch an (“Guard” steht neben der Klingel), doch es macht natürlich niemand auf – vielleicht ist ja gar keiner da, es ist ja immerhin Sonntag. Die anwesenden Polizisten der Spezialeinheit WEGA stehen gut gelaunt nebenbei und beobachten das muntere Treiben – Mitarbeiter des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) in zivil sind aber auch da und werden sich die Gesichter der Spaziergänger wohl genauer ansehen als die Kollegen in Uniform.
Das Unbegreifbare angreifen
Dass ein fades Haus, bei dem es quasi nichts zu sehen gibt, plötzlich so viele Menschen anlocken kann, erscheint seltsam. Doch tatsächlich hat die NSA-Villa einen Effekt: Sie macht das Unbegreifliche – die geheime Massenüberwachung der Internet und Smartphone-Nutzer – ein wenig greifbar, ist der analoge Anker im virtuellen Wahnsinn. So wie Facebook-Gegner Max Schrems sich seine angeblich gelöschten Facebook-Daten auf einen imposanten Stapel Papier druckte, ist es den Menschen wichtig, auch mal den Zaun und die Klingel anzugreifen, hinter denen sich die bösen Überwacher verstecken.
Endlich den Stützpunkt der vermeintlichen Spione lokalisiert zu haben, gerät an diesem Sonntag gar zur Familienattraktion. Spaziergänger lassen sich grinsend vor der Villa fotografieren, als wären sie in einem Vergnügungspark mit Agententhriller-Thematik – vielleicht ist so der Ernst der Lage besser zu verkraften.
Kinderwagerl statt erhobene Fäuste
Nach einer Stunde und einer kurzen Ansprache von Pilz zucken die meisten Besucher die Schultern und schlendern wieder von dannen – viele gleich zum Heurigen, wo man sich und der mitgebrachten Familie bei NSA-Scherzchen eine Jause gönnt. Und da wird auch klar, was dieser Spaziergang eigentlich bedeutet. Hinter all dem Sarkasmus und Schmunzeln steckt echte Besorgnis, der aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Dass der Bildungsbürger sich auf die Straße begibt, um ein Zeichen zu setzen, ist ungewöhnlich – bei Demonstrationen gegen Internetregulierung und -überwachung traf man bisher eher auf junge Menschen mit Guy-Fawkes-Masken.
Fussi konnte über Nacht 200 Menschen zur NSA-Villa locken – was wohl auch daran lag, dass es keine Parteiveranstaltung mit wehenden Fahnen und mit Slogans bedruckten Transparenten ist. Die heutige Mittelschicht sieht sich nicht gern unter den Bannern irgendwelcher Parteien, da kommt ein überparteiischer Spaziergang in lockerer Atmosphäre besser an als Megaphone, durch die Parolen gebrüllt werden.
Der politische Spaziergang
In Deutschland ist der Spaziergang ebenfalls “en vogue”: Wöchentlich gehen an die hundert Menschen zum Dagger Complex nahe Frankfurt, einem US-Stützpunkt mit Späh-Aufgaben. Auch dort ist nicht die klassische Demonstration zu sehen, sondern Menschen, die den freundlichen Protest mit Freizeitspaß verbinden, und Griller, Pavillons und Würstchen mitbringen. Der Unterschied zu anderen Ländern ist offensichtlich: Während es in Spanien, der Türkei oder Griechenland zu brutalen Ausschreitungen gekommen ist, sind die österreichischen und deutschen Protestveranstaltungen noch klein und harmlos sind (mit der Polizei wird geplaudert und nicht gerauft).
In China, wo zu solchen politischen Spaziergänge 2011 im Zuge der so genannten “Yasmin-Revolution” im Internet aufgerufen (weil man keine Demos anmelden konnte), sind sie übrigens nicht so friedlich ausgegangen – sie wurden von der Polizei im Keim erstickt.