Versaut Twitter unsere Timelines? Blödsinn, Algorithmen könnten sie sogar besser machen

Twitter-Programmierer bei der Arbeit. © Twitter

Twitter-Programmierer bei der Arbeit. © Twitter

“Twitter darf nicht Facebook werden!”, forderen derzeit Twitter-Nutzer. Der Grund: Der Kurznachrichten-Dienst arbeitet an einer Neugestaltung der Timeline, also der zentralen Spalte, wo man die Tweets aller gefolgten Accounts in chronologisch verkehrter Reihenfolge präsentiert bekommt. Unter der Leitung von Twitters Vizepräsident für Produkte, Daniel Graf (zuvor bei Google für Maps zuständig), wird damit experimentiert, in der Timeline auch Tweets von Accounts anzuzeigen, die man nicht abonniert hat. “Wir fügen möglicherweise auch einen Tweet, einen Account, dem Du folgen solltest oder sonstige beliebte bzw. relevante Inhalte zu Deiner Timeline hinzu”, heißt es dazu seitens Twitter. “Das bedeutet, dass Dir manchmal Tweets von Accounts angezeigt werden, denen Du nicht folgst.

Twitter filtert nicht, sondern ergänzt
Dass künftig nicht nur der User selbst, sondern auch ein Algorithmus entscheidet, welche Tweets man zu sehen bekommt, hat zu viel Kritik geführt. Wie bei Facebook, wo ein Algorithmus anhand von 100.000 Faktoren darüber entscheidet, welche Posts im News Feed angezeigt werden, fürchten nun viele, dass künftig auch bei Twitter eine geheime Formel vorgibt, was man lesen darf. Die Reinheit der Timeline, die sich jeder selbst zusammenstellt, gehe so verloren, wird geklagt.

Der Vergleich zu Facebook hat jedoch einen entscheidenden Fehler. Der News Feed könnte jedem Facebook-Nutzer jeden Tag 1500 verschiedene Beiträge zeigen, tut das aber nicht. Stattdessen werden etwa 300 Posts, also ein Fünftel, vom Algorithmus auf Basis des bisherigen Nutzerverhaltens ausgewählt und präsentiert. Den Rest bekommt der Facebook-Nutzer in der Regel nicht zu sehen. Kritiker bemängeln zu Recht, dass ein solcher automatischer Filter immense Auswirkungen auf unsere Wahrnehmung hat und auf Basis von Regeln, die der User nicht beeinflussen kann, ausblendet, was eigentlich wichtig wäre – die berühmte Filter-Bubble.

Twitter für eine möglicherweise bald algorithmische Timeline zu kritisieren, ist deswegen verkehrt. Denn Twitter will keine Tweets aussieben, sondern lediglich Content hinzufügen, der ja spannend sein kann. Nicht weniger, sondern mehr soll der User sehen.

Spannender Content für neue Nutzer
Dass gerade viele Journalisten, die Twitter gerne als Nachrichten-Feed benutzen, die anstehenden Neuerungen kritisieren, ist interessanterweise Ausdruck eines Grundproblems. Denn für sie mag eine verkehrt chronologisch exakt geordnete Timeline perfekt sein, weil sie gewissermaßen einen Nachrichten-Ticker in Echtzeit darstellt. Twitter ist aber in einer Lage, in der es für weiteres Nutzerwachstum sorgen muss und nicht nur die Stammklientel – und das sind nun mal vor allem Medienleute – bedienen kann. Twitter hält heute bei 271 Millionen monatlich aktiven Nutzern, Instagram (200 Mio.) und Tumblr (201 Mio. Blogs) sind dicht auf den Fersen, WhatsApp (600 Mio.) oder Line (470 Mio.) sind längst vorbei gezogen, Snapchat (100 Mio.) boomt.

Für neue Nutzer, die Twitter für sein künftiges Geschäft unbedingt braucht, ist der Kurznachrichten-Dienst mit seinen @-, RT- und #-Symbolen oft nicht einfach zu verstehen. Zudem haben sich Neulinge noch keine reichhaltige Timeline aufgebaut und verlieren oft wieder das Interesse. Mit einem Algorithmus, der neue Inhalte von nicht gefolgten Accounts zeigt, könnte der Dienst für neue Nutzer spannender werden, weil er ihnen hilft, sich in der Twitter-Welt zurecht zu finden. Die börsennotierte Firma aus San Francisco macht immer noch große Verluste (im zweiten Quartal minus 145 Mio. Dollar) und braucht viele Millionen weitere User, denen es Werbung zeigen kann.

Premium-Accounts für Puristen?
Vielleicht tut sich mit dem Verlangen vieler nach einer reinen Timeline und den Beschwerden über immer größeren Werbedruck (zuletzt startete Twitter seine Vermarktung auch in Österreich) auch ein neues Geschäftsmodell auf: Twitter könnte für werbefreie Accounts mit einer puren Timeline nach dem Freemium-Schema eine kleine Nutzungsgebühr einheben. Wem wäre das 3, 4 Euro pro Monat wert?

Update: Twitter-CEO Dick Costolo hat auf Kritik reagiert, warum manche User die Favs anderer als Tweet angezeigt bekommen. Das würde nur passieren, wenn man die Timeline zwei Mal kurz hintereinander aktualisieren würde und die gefolgten Accounts keine Updates parat haben. Dann will Twitter den News-Hunger des Nutzers mit Favs anderer stillen.

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